Die Kapelle Heinz Kretzschmar – Swing in der frühen DDR

Kapelle Heinz Kretzschmar_Dresden_1947-1948_Foto Koch
Die Kapelle Heinz Kretzschmar in ihren frühen Dresdner Jahren (hier 1947 oder 1948) in Aktion. Rechts Kretzschmar an der Klarinette, links Günter Hörig am Klavier (der spätere Leiter der Dresdner Tanzsinfoniker) und Sänger Fritz Urban an der Gitarre (Foto: Koch).

Heinz Kretzschmar (1926-2015) gründete seine Dresdner Band 1946 als Sextett und erweiterte sie später auf neun Mann. Das Repertoire bestand, wie zu dieser Zeit für angesagte Kapellen üblich, auch aus swingenden Schlagern und Jazzstandards.

Die Kapelle Heinz Kretzschmar besaß schnell Kultstatus unter den jungen Dresdnern. Noch heute erzählen nunmehr über 90-Jährige begeistert von ihren damaligen Konzerterlebnissen, als wäre es erst gestern gewesen.

Dementsprechend sind schon viele Informationen über diese Band in diversen Publikationen (z.B. Drechsel 2011) und einschlägigen Internetforen (z.B. das Deutsche Schellackplattenforum) veröffentlicht worden. Ich möchte an dieser Stelle lediglich ein paar Musikbeispiele präsentieren. Auch, um das zwitterhafte damaliger staatlicher Kulturpolitik zu illustrieren.

Kapelle Heinz Kretzschmar_Jamsession_Dresden 1949
Die Kapelle Heinz Kretzschmar live unter jugendlichen Fans, um 1949. 2. v.l. Sänger Fritz Urban, r. Kretzschmar.

Denn die Kapelle Heinz Kretzschmar wurde Ende 1950 von Dresdner Behörden verboten. Das heißt, den Musikern wurde ihre »Spielerlaubnis«, ein Dokument, welches ihnen kommerzielle Auftritte ermöglichte, entzogen. Und damit die Möglichkeit, als Musiker ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.

Grund für dieses Verbot war eine Schlägerei zwischen Jugendlichen und der Polizei während einem Konzert der Kapelle. Außerdem die Weigerung der Musiker, »erzieherisch« auf die jugendlichen Tänzer »einzuwirken«. Die Behörden nahmen nämlich einen Zusammenhang zwischen gespielter Musik und moralischem Verhalten der Tänzer und Zuhörer an, ein damals weit verbreiteter Topos in Ost wie West.

Dem Verbot war eine schon länger andauernde argwöhnische Beobachtung der Dresdner Öffentlichkeit, dem Kulturamt und des frischgebackenen Geheimdienstes vorangegangen. Neben der Ablehnung US-amerikanischer Tanzmusik aus hochkulturellen Gründen zwang der sich aufheizende Kalte Krieg zwischen den Systemen jeden Einzelnen zur politischen Positionierung.

Die Kulturbürokratie in der Sowjetisch besetzten Zone (SBZ) und ab 1949 in der neu gegründeten DDR betonte also in der medialen (zensierten) Öffentlichkeit einer Diktatur ihre Zustimmung zu sozialistischen Werten, konnte (und musste) jedoch unter der Hand musikalische Projekte und Bands fördern, die rein westlich orientiert waren. Ohne US-amerikanisch geprägte »Tanz- und Unterhaltungsmusik« ging schon damals nichts mehr.

Kretzschmar_Kühn_um 1949
Heinz Kretzschmar (re.) und Günter Hörig (li.) bei einer Jamsession in Dresden mit dem Leipziger Gast Rolf Kühn (mi.), 1949. Im Hintergrund jugendliche Fans.

Die Kapelle Heinz Kretzschmar hätte sich auf die Vorschläge der Dresdner Behörden einlassen können, die vorsahen, mit einem anderen und eigens komponierten Repertoire eine »sozialistische« Alternative zu westlichen Hits zu schaffen. Stattdessen wählte die Kapelle die lukrativere Variante, über das noch offene Westberlin in die BRD zu flüchten und dort ihr Glück zu versuchen.

Ein Grund für die Zuversicht der Kapelle Heinz Kretzschmar, auch gegen die große westliche Konkurrenz bestehen zu können, dürften neben dem begeisterten Dresdner und Berliner Tanzpublikum auch die Musikproduktionen bei der staatlichen Schallplattenfirma »Lied der Zeit« gewesen sein.

Auch diese Firma befand sich im Zwiespalt zwischen kulturpolitischem Anspruch und Marktgegebenheiten. Die vielen Musikproduktionen westlicher und US-amerikanischer Titel unter dem eigenen Label Amiga, gelegentlich mit Bands aus Westberlin und der BRD, rechtfertigte Lied der Zeit mit dem Mantra, man dürfe die Jugend nicht an Radiosender und Schallplattenfirmen aus dem Westen verlieren. An anderer Stelle habe ich die Problematik ausführlicher geschildert.

Ein Werbefoto der Kapelle Heinz Kretzschmar aus dem Jahr 1952.
Ein Werbefoto der Kapelle Heinz Kretzschmar aus dem Jahr 1952. Da waren sie schon in der BRD angekommen (Foto: Krauskopf).

Nun jedoch zu den Musikbeispielen: Als Erstes hören Sie zwei Titel aus dem Live-Repertoire der Kapelle Heinz Kretzschmar, wahrscheinlich auch bei einem Live-Konzert aufgenommen, und zwar 1948. Die Qualität ist leider bescheiden, es handelt sich um Digitalisate einer Decelith-Platte. Auf diesem Material konnten damals auch Laien Musik-Aufnahmen herstellen.

Kapelle Heinz Kretzschmar, Live 1948: Komm zu Papa, Susi

Bemerkenswert an dieser Aufnahme ist der swingende Gestus US-amerikanischer Vorbilder, welcher der jungen Kapelle scheinbar schon in Fleisch und Blut übergegangen ist. Getoppt wird das Ganze noch durch den Scat-Gesang des bandeigenen Sängers und Gitarristen Fritz Urban (1924-1983). Als Vorlage diente wahrscheinlich ein westlicher Hit, ich freue mich über entsprechende Hinweise.

Der Gitarrist und Sänger Fritz Urban (1924-1983), um 1950 (Foto: Pan Walther)
Der Gitarrist und Sänger Fritz Urban (1924-1983), um 1950 (Foto: Pan Walther)

Kapelle Heinz Kretzschmar, Live 1948: Dampfer nach China / Slowboat to China (Loesser)

Dieser Titel, ebenfalls auf Decelith, demonstriert sehr schön die damalige Orientierung der Tanzkapellen an aktuellen westlichen und US-amerikanischen Hits. Schon länger war es in der Musikbranche üblich, beispielsweise den englischsprachigen Originalen eine nationale, hier deutsche, Variante hinzuzufügen, um auch international mit Verlagsprodukten und Musikproduktionen Geld verdienen zu können. Die Kapelle Heinz Kretzschmar hatte einen nur sehr eingeschränkten Zugang zu westlichen Noten und Schallplatten. Aber Dank der klassischen Musikausbildung konnten die Musiker ganze Arrangements aus dem Radio kopieren. Das lokale Tanzpublikum verlangte die Hits aus dem Westradio und die Kapelle lieferte: Der Titel von Frank Loesser war soeben in den USA erschienen und offenbar schon wenige Monate später in Dresdner Tanzlokalen zu hören.

Die nächsten Titel stammen aus der staatlichen Musikproduktion der DDR. Es handelt sich um Digitalisate von Schellackplatten, die 1950 unter den Labels Amiga und Regina bei Lied der Zeit erschienen sind.

Kapelle Heinz Kretzschmar, 1950: Babett, backe Kuchen / I’d’ve baked a Cake (Hoffman/Merrill/Watts/Bradtke), Digitalisat von Amiga 1289

Auch dieser Titel ist kurz nach seiner Entstehung in den USA (1950) als deutsche Version für den sozialistischen »Markt« produziert worden. Mit einer Westberliner Gesangsgruppe, dem Cornel Trio. Aus oben genannten Gründen wurde dieser Pragmatismus staatlicherseits geduldet. Die Kapelle Heinz Kretzschmar war auf Berliner Konzerttourneen dem Produzenten Konstantin Metaxas aufgefallen und er produzierte mehrere Titel mit der Band, auch für sein eigenes Label Regina. Scheinbar half er auch bei der Flucht aus der DDR, auf jeden Fall jedoch mit Musikproduktionen für den westlichen Markt.

Kapelle Heinz Kretzschmar 1950: Den ganzen Tag Besuch (Droste/Kießling), Digitalisat von Amiga 1290

Wiederum ein zeitnahes Cover eines westlichen Hits. Die Kapelle Heinz Kretzschmar glänzt mit ausgedehnten Improvisationen, welche zwar vom jugendlichen Publikum geschätzt und als authentisch goutiert wurden, aufgrund fehlender (Jazz-)Traditionen und Ausbildungsmöglichkeiten im Nachkriegsdeutschland aber um so schwieriger zu bewerkstelligen waren.

Auch in den folgenden Produktionen (allesamt Cover US-amerikanischer Hits) sind Soli zu hören, die dem internationalen Zeitgeschmack entsprechen und vom fortgeschrittenen Improvisationsvermögen und Stilbewusstsein der jungen Musiker zeugen, unter anderem Günter Hörig am Klavier, dem späteren Leiter der Dresdner Tanzsinfoniker.

Kapelle Heinz Kretzschmar 1950: Beschwingte Kleinigkeiten (Crazy Rhythm) (Kahn, Caesar, Meyer), Digitalisat von Amiga 1350

Kapelle Heinz Kretzschmar 1950: Sind Sie allein, Madame (Mam’selle) (Goulding, Rainer), Digitalisat von Amiga 1348

Kapelle Heinz Kretzschmar 1950: Besetzt (Busy Line) (Semos, Stanton, Hansen), Digitalisat von Regina 2021

Kapelle Heinz Kretzschmar 1950: Mademoiselle Madeleine (Sentimental Me) (Morehead, Cassin, Reinhold), Digitalisat von Regina 2018

Kapelle Heinz Kretzschmar 1950: Ich sende dir Rosen (Red Roses for a Blue Lady) (Tepper, Brodsky, Balz), Digitalisat von Regina 2019

Kapelle Heinz Kretzschmar 1950: Zwischen Buxtehude und Berlin (On the Atchison, Topeka and the Santa Fe) (Warren, Schwielow), Digitalisat von Regina 2020

Die Band um Heinz Kretzschmar löste sich nach ein paar Jahren Tourneetätigkeit auf. Nach langer erfolgreicher Bühnenkarriere, darunter viele Jahre bei Kurt Edelhagen, lebte Kretzschmar zuletzt wieder in seiner Heimatstadt, Radebeul bei Dresden. Schon zuvor, seit den ersten Jahren nach der Wende, war er des Öfteren wieder in Dresden aufgetreten und nach eigenen Aussagen immer wieder überrascht von der langjährigen Treue seiner Fans.

Das Archiv für Populäre Musik im Osten besitzt vor allem Dokumente aus der frühen Zeit der Kapelle in Dresden, aber auch Teilnachlässe von Kretzschmar-Fans, welche die Jahre nach 1950 bzw. 1989 umfassen. Vielen Dank an Joachim Gerlach, Helga Endlich und Hans Burckhardt!

3 Antworten auf „Die Kapelle Heinz Kretzschmar – Swing in der frühen DDR“

  1. Hallo,
    mein bevorzugter Tenorsaxophonist bei Edelhagen – seiner
    eigenen Combos auf TONO habe ich. Hatte brieflichen Kontakt bezüglich seiner späten Aufnahmen der Ende 70ziger bis Mitte 80ziger Vinylplatten. Ich schätze Heinz
    Kretzschmar als Klarinettist in Edelhagens Aufnahmen,
    die er im April 1964 in Rhapsody in blue/Warsaw Concerto
    in Hamburg für Polydor slphm 237630 auch gemacht hat. Lob über Lob.

  2. Hallo,
    Ich suche die Musiknoten von ‚Cara Maria‘. Das Orchest von Kurt Edelhagen hat diesen Langsame Waltz damals gespielt in einem Arrangement von Heinz Kretzschmar. Weiss jemand wo ich die Originalmusik oder das Arrangemet finden kann?

  3. Eine verdienstvolle Seite/Site! Man ahnt schnell, wieso Heinz Kretzschmar tanz- und jazzmusikalisch an seine Grenzen stieß. Doch während im Osten die Kulturbürokratie waltete, war es im Westen die jazzfeindliche Stimmung des „Mainstream“-Publikums. Auch hier ging die Zahl von reinen Jazz-Produktionen bei den den Markt beherrschenden Plattenfirmen (Polydor, Telefunken, Philips, Austroton) seit 1950 stark zurück. Auch die Rundfunkanstalten reduzierten ihr Jazz-Programm – wie die Jazz-Krise beim NWDR 1949 zeigt. Und auch die legendäre „Mitternacht in München“-Sendung von Jimmy Jungermann beim BR wurde eingestellt.
    Umso bewundernswerter, dass diese „wilde“ Zeit mit diesem Angebot dem Vergessen entrissen wurde.
    Mich würden allerdings noch ein paar andere Schicksale von Orchestern samt ihrer Leiter interessieren: Heinz Igel, Eberhard Weise, Max Reichelt und vor allen Dingen Karl Walter (dem sogar „Der Spiegel“ 1954 eine Story widmete). Bei Karl Walter fingen wohl Walter Eichenberg, Fips Fleischer und Horst Fischer an. Von ihm gibt es nur eine westdeutsche EP „Tanz im Lido“…
    Viele Grüße aus Heidelberg,
    Micha Hörnle

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